Wie gesellschafts- und psychosozial relevant ist die Möglichkeit einer (niedrigschwelligen) online gestützten oder online begleitenden Therapie?

Online gestützte Therapien Pro und Contra

Wie gesellschafts- und psychosozial relevant ist die Möglichkeit einer (niedrigschwelligen) online gestützten oder online begleitenden Therapie?

Ein Beitrag von Alexandra Klapperich

 Online  gestützte Therapien Pro und Contra

Im Sommer des letzten Jahres begleitete ich die Live Online Seminare bei Christina Vedar. Im Rahmen des Studiums Kunst-Pädagogik-Therapie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, ging es in erster Linie darum eigene Erfahrungen im professionellen therapeutischen Bereich zu sammeln. Aus dem Gefühl heraus, dass in den Neuen Medien nicht die Ressource gesehen wird, die sie bieten, entstand eine Art intrinsisch motivierte Untersuchung. Vereinfacht gesagt geht es darum, wie die „Ressource Internet“ genutzt werden kann, also „Therapie-Gespräche“ online stattfinden können.

 

Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa spricht von einem kollektiven Burnout. Zu den häufigsten Krankheitsbildern in unserer Gesellschaft zählen Angststörungen, Depressionen sowie Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch. Viele Menschen machen einmal im Leben eine traumatische Erfahrung, die sie schwer verarbeiten können, und einige Menschen entwickeln daraufhin eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Katastrophen, wie auch Natur-Katastrophen, Landflucht, aber auch Unfall-Traumata, gehen dieser psychischen Krankheit häufig voraus.

 

Befindet sich ein Mensch hingegen in einem erfüllten Leben, dann häufig, weil er von einer Sache oder einer Person bewegt oder berührt wird. Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa nennt das eine Resonanzbeziehung und vergleicht dies mit der Musik, die etwas zum Schwingen bringt. Sichere Strukturen/Routinen, begünstigen weiter die Heilung. Rosa spricht auch vom „angerufen sein“. Diese Resonanzerfahrungen besitzen zwar immer leibliche Dimensionen, können jedoch genauso durch das Betrachten eines Bildes im Internet ausgelöst sein: Der Betrachter ist berührt. Auch Rosa glaubt nicht, dass Digitalisierung grundsätzlich falsch und schlecht ist.

 

Die Frage ist bloß nur:

Welche Therapie-Ansätze außerhalb des geschlossenen Raumes vor Ort, im Berufsbild der Kunsttherapeutin oder des -Therapeuten infrage kommen könnten, und inwiefern diese gesellschaftsrelevant sein könnten. Also für wen solch ein Angebot nützliche wäre.

 

So heißt es in der Beschreibung einer klinischen Studie auf der Website des Bundesministerium für Bildung und Forschung, „dass sowohl Geflüchtete als auch das klinische Personal von überall Zugriff auf die Therapie haben und so strukturelle und sprachliche Barrieren leichter überwunden“ werden können. Das Angebot „richtet sich an arabischsprachige Geflüchtete, die unter Angst-, depressiven oder posttraumatischen Symptomen leiden“. Hier schaut man sich das traditionelle Setting („face-to-face“) aber auch das Online-Format an.*

 

Denkt man an die Konversation, die per Instant-Messaging-Apps wie WhatsApp stattfinden, verwundert es, dass das digitale Medien nicht häufiger im therapeutischen Kontext genutzt wird. Nahezu 100 Prozent unter den 14- bis 49- jährigen Deutschen nutzen 2021 sowieso das Internet.* Technisch geschehen kann man davon sprechen, dass es ein vorhandenes Setting gibt. Man denke zum Beispiel an Video-Calls per Skype oder an Meetings per Zoom. So könnte man solch ein Angebot an Personen richten, die sich vor einer Face-to-face-Therapie scheuen. Vermutlich genau die Gruppe von Menschen, die sonst unter die sogenannte Dunkelziffer fällt.

 Online  gestützte Therapien Pro und Contra

Der Weg zum Therapeuten vor Ort ist oft aufwändig und zeitintensiv, bedenkt man zum Beispiel die fehlende Infrastruktur im ländlichen Raum. Frauen versorgen erst einmal die Familie, und zudem wartet man lange darauf, dass ein Therapieplatz frei wird.

 

Laut einer „Umfrage der Landespsychotherapeutenkammern und der BPtK“ aus dem Jahr 2011, warten Menschen, die aufgrund psychischer Beschwerden einen ambulanten psychotherapeutischen Behandlungsplatz suchen, drei Monate (12,5 Wochen) auf ein Erstgespräch. Für 71,9 Prozent der Patienten gelingt es den Psychotherapeuten, aufgrund der Auslastung ihrer Praxen erst nach mindestens drei Wochen ein erstes Gespräch anzubieten. In 31,5 Prozent der Fälle warten die Patienten sogar länger als drei Monate.“* Besonders schlecht für Patienten und Patientinnen, die dringende psychische Hilfe benötigen. Wenn man über Verfügbarkeit von therapeutischen Angeboten nachdenkt, so werden sicher die Akut-Angebote ihre Relevanz besitzen.

 

So gibt eine Studie der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen einen detaillierten Einblick in die Arbeit der Telefon-Seelsorge. Professor Dr. Martin Klein, erklärte, dass die unzureichende ausreichende Versorgungslage psychisch kranker Menschen in Deutschland dazu führe, „dass Institutionen wie die TelefonSeelsorge phasenweise oder über einen langen Zeitraum eine zentrale Instanz* darstellen. Und beinahe hätte sich der geplante Änderungsantrag zur Raster-Psychotherapie durchgesetzt. Bei der Raster-Psychotherapie sollten die Therapie-Stunden vorab festgelegt werden, heißt Menschen mit psychischen Erkrankungen sollten ausschließlich entsprechend einem Raster vorgesehene Behandlungen nutzen können. Zudem verschärfte die Corona-Pandemie das Defizit an Behandlungsplätzen.

 

Auf einer Petitionsseite hießt es dazu: „Statt Therapien in strenge Raster zu pressen, ist eine Verbesserung der Versorgung insgesamt notwendig. Hierzu würde sich online gestützte oder online begleitende Therapie anbieten. – Gerade auch präventiv. In einem Testimonial auf der Website von Christina Vedar heißt es: „Ich habe eine Kunsttherapie angefangen, weil ich fast 5 Monate auf eine Psychotherapie warten musste. Das hat mir sehr geholfen und ich habe die Kunsttherapie dann auch einfach weiter gemacht.“ Jasmin hat das Angebot als eine Überbrückung für einen Psychotherapieplatz genutzt und für sich als Ressource erkannt, sodass sie diese weiter nutzt.

 Onlie  gestützte Therapien Pro und Contra

Welche eine schnelle Möglichkeit würde hier gar die Online-Therapie bieten?

 

Hier zeigt sich ein echter Nutzen. Es scheint als würde allzu häufig vergessen, dass eben dennoch an der anderen Seite jemand hinter dem Bildschirm sitzt. – Selbstverständlich ist dies nicht mit einer physischen Anwesenheit zu vergleichen. Der Mensch ist nun einmal ein soziales Wesen und benötigt auch Zärtlichkeit, dennoch stellt dies ein Plädoyer dar, die digitalen Möglichkeiten ebenso zu nutzen. Schließlich geht es doch im Kern darum, die Selbstwirksamkeit des Patienten zu stärken. Dies ist nicht primär vom Medium abhängig. Es gibt bereits Studien, die die Wirksamkeit von Online-Psychotherapie bestätigen.*

 

Zugegeben, sinn-armer sind Online-Stunden im Vergleich zur Therapie vor Ort. Bleibt jedoch auch hier die Frage, ob dieser Aspekt ausschließlich negativ betrachtet werden muss.

 

So ist zum Beispiel für autistische Personen die Schwelle zur Reizüberflutung viel niedriger als für neurotypische Menschen. Oder anders gesagt: Die Weiterverarbeitung und Integration von Reizen führt bei Autisten schneller zu Überforderungen als bei neurotypischen Patienten.* Man denke zum Beispiel an die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln. Hier würde die „Reizlast“ unter Umständen den Patienten schon auf dem Weg zur Psychotherapie schwächen.

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Innerhalb des Online-Settings in den Live Online Seminaren bei Christina nutzen wir die „Geste des Schenkens“*. Man sagt, dass Schenken soziales Handeln „par excellence“ ist. Schenken richtet sich auf andere, kommt aber zumeist beiden zugute: Der Empfänger freut sich über die mit dem Geschenk ausgedrückte persönliche Wertschätzung. Der Geber wählt aus. Hier liegt in der Kunst des Schenkens die Fantasie. Jede kunstvolle Wahl setzt voraus, sich ein wenig Zeit zu nehmen, und Gedanken und Sinne zu öffnen.

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In den Online-Stunden spielte es überhaupt keine Rolle, dass es sich nicht um ein physisches Geschenk handelte. Die Anerkennung, das gute Gefühl, blieb das Gleiche. Für mich, der beste Beweis dafür, dass die Fragestellung „online oder nicht-online“ binnen des therapeutischen Zusammenhangs überdacht werden müsste.

 


Alexandra Klapperich, B.A., Kunsttherapeutin, hat in den Zeiten der Pandemie im ersten Quartal 2021 ein Online Praktikum im Rahmen Ihres Studiums bei Art Vedar absolviert. Dieser Artikel ist im Rahmen Ihrer Arbeit bei Art Vedar und in Ihrem Studium entstanden. Mehr über die Autorin können Sie auf ihrem Instagram Kanal @alex.alltagskunst erfahren.

 

Quellen:

Klinische Studie (Online-Therapie): Abgerufen von https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/klinische-studie-online-therapie-8839.php

Anteil der Internetnutzer in Deutschland in den Jahren 2001 bis 2021: Abgerufen von https://de.statista.com/statistik/daten/studie/13070/umfrage/entwicklung-der-internetnutzung-in-deutschland-seit-2001/

BPtK-Studie zu Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung Umfrage der Landespsychotherapeutenkammern und der BPtK 2011: Abgerufen von https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20110622_BPtK-Studie_Langfassung_Wartezeiten-in-der-Psychotherapie.pdf

Wissenschaftliche Auswertung bestätigt: TelefonSeelsorge Nr. 1 unter den Sorgentelefonen: Abgerufen von https://www.telefonseelsorge-marburg.de/cms/?q=node/840

Markram, K., Markram, H., The Intense World Theory – A Unifying Theory of the Neurobiology of Autism,Frontiers in Human Neuroscience, Volume 4, 2010, S. 224: Abgerufen von https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnhum.2010.00224/full

„Die Geste des Schenkens“ ist einem Seminar von Prof. Ulrich Maiwald entlehnt. Ulrich Maiwald ist Professor für performative Kunst und Sprache an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Bonn Alfter.

Studien zur Therapiewirksamkeit:
Backhaus et al., 2012, Berryhill et al., 2019, Thomas et al., 2021, Tönnies et al., 2021
Studien zur therapeutischen Beziehung:
Norwood et al., 2018, Simpson & Reid, 2014
Abgerufen von https://www.schoen-klinik.de/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs

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